Kunst machen müssen - Die Menschen- und Bergnatur entdecken

Warum dieser Vergleich zwischen zwei Entdeckern, einem Künstler und einem Entdecker der Wildnis und der Menschennatur, deren Karrieren und Entdeckungspraxis sich auf der Ebene der Phänomene so stark unterscheiden?
Dieser Vergleich war nicht geplant. Bei der Analyse der Schriften und Interviews fielen mir immer wieder nahezu wortgleiche Formulierungen, Bewertungen, Grundannahmen sowie die gleichen bekundeten als auch gelebten Werte bei den beiden auf. Hinzu kam, dass Messner in seinen Veröffentlichungen in einer bemerkenswert zutreffenden Weise über Picassos Leben schrieb und letztlich auch die in einem Gespräch mit ihm über mein Projekt geäußerte Wertschätzung und Bewunderung Picassos.
„Nur weil ich mutig zu meinen Ideen, Projekten und Ansprüchen stehe, bin ich häufig zum Egoisten abgestempelt worden. Ich möchte einen Menschen kennenlernen, der kein Egoist ist. Picasso war ein großartiger Egoist, und er hat seine Bilder gemacht, weil er sie machen musste." (RM Leben am Limit 2004, 236-237)

Also musste es bei aller Unterschiedlichkeit der Ereignisse, der Zeiten und Gesellschaften, in denen sie lebten und leben und bei aller Unterschiedlichkeit des Sinns und der Praxis ihres Entdeckens auf einer strukturellen Ebene auch Gleichheiten geben. Mit dieser Hypothese ging ich an die Analyse der beiden fertigen Fallstudien. Und mit der Hypothese, dass es sich bei den beiden um Entdecker handelt, die sehr erfolgreiche radikal subjektzentrierte Karrieren gemacht haben verglichen mit den eher organisationsbezogenen der bisher untersuchten Wissenschaftler. Messner und Picasso sind meiner Einschätzung nach Idealtypen subjektbezogener Karrieren, an den man wie immer bei Idealtypen die Merkmale in der reinsten Form sehen kann.

Die Funktion dieses Vergleichs für mein Forschungsvorhaben ist, diesen durch den gesellschaftlichen Wandel mittlerweile zur Normalität gewordenen subjektzentrierten Karrieretypus besser beschreiben zu können, also ein Modell davon zu entwickeln und die beiden Typen subjekt- und organisationszentrierte Entdeckerkarrieren als zwei Ausprägungen des absoluten Modells von Entdeckerkarrieren zu verstehen. Unklar ist derzeit noch, welche Rolle dabei Professionen spielen, oder ob sich die Unterscheidung am Grad der Subjekt- oder Organisationsbezogenheit festmachen lässt. Künstler z.B. könnten eine eher subjektbezogene Karriere als freie Künstler oder eine organisationsbezogenen als Künstler, die für und in Organisationen arbeiten, wählen. Eine solche Unterscheidung zwischen einem absoluten Modell von Entdeckerkarrieren und den auf einer logischen Ebene darunter liegenden Typen würde einige Modifizierungen in den Theorieteilen, die in den ersten Menüpunkten präsentiert werden, nach sich ziehen.

So wie sich Nikola Tesla in seinen Erfindungen, den technischen Geräten und Picasso sich in seinen Kunstwerken ausdrückt, statt über sich zu reden, bietet Messner Reflexionen über seine Entdeckungen in Form von Büchern, Interviews und Vorträgen an. Deshalb ist bei diesem Vergleich die Datenbasis bei beiden sehr unterschiedlich. Aus Messners Schriften kann man zitieren, bei Picasso muss man aus der Entwicklung seiner Kunststile und -themen und den Werken Schlüsse auf seine Karriereanker ziehen, es gibt sehr viel weniger selbstreflexive Äußerungen von ihm. Picasso hat sich wenig zu sich und seiner Karriere und mehr über Kunst geäußert, glücklicherweise gibt es mehr Material in den Büchern seiner Freunde und seiner Frau Françoise Gilot über ihn.

Lesehinweis! Es macht Sinn, entweder beide Fallstudien zuvor zu lesen, oder während des Lesens des Vergleichs zu einer oder zu beiden Studien zu switchen. Dort finden Sie auch hier verwendete Literatur, auf die ich mich bei den Zitaten in Kurzform beziehe, in einem ausführlichen Verzeichnis.

Hier die Gliederung dieser Studie, die ersten drei Abschnitte sind fertig, der vierte in Arbeit.

Karrieren jenseits von Laufbahn und Beruf

Sie canceln ihre begonnenen Karrieren
Ihre Talente und Leidenschaften zeigen sich schon im Alter von fünf Jahren. Picasso malt nicht wie ein Kind, sondern wie ein praktizierender Künstler, Messmer besteigt im gleichen Alter den ersten Berg.

Zunächst sieht es bei Picasso wie der Beginn einer herkömmlichen Künstlerkarriere aus. Mit zehn Jahren geht er auf eine Kunstschule, mit 14 auf die Kunstakademie und wird mit 16 Jahren zum Studium der Künste in der königlichen Akademie in Madrid zugelassen. Nach einem Tag bricht er sein Studium ab: „was soll ich da?“, geht stattdessen in den Prado und sucht Kontakte zu Künstlern, die Eltern sind entsetzt. Er erkrankt und zieht sich zurück in das Haus eines Freundes auf dem Land. Nach dieser Auszeit und Übergangsphase gelingt es ihm, die Entscheidung gegen „ein Leben im Falschen“ zu treffen, er kehrt zurück nach Barcelona, mietet dort mit einem Freund ein Atelier, lebt ärmlich mit ein wenig finanzieller Unterstützung durch die Eltern das Leben eines Bohemiens und malt wie besessen.

Messner weiß früh, dass Klettern und Bergsteigen kein Beruf sind, sondern eine im Sinne einer Karriere „nutzlose Tätigkeit“, die er aber niemals unterbricht und während der Schulzeit immer weiter perfektioniert, offenbar auf Kosten seines Engagements für die Schule. Er muss die Abiturprüfung wiederholen, arbeitet als Hilfslehrer und beginnt ein Ingenieursstudium, das ihn nicht wirklich interessiert und ihm das Gefühl gibt, “er versäume sein Leben“, gleichzeitig war dieses andere Leben für ihn “unvorstellbar“. Als die Expeditionen und das Bergsteigen den größten Teil seines Lebens einnehmen, bricht er sein Studium ab, trainiert dafür und finanziert seinen Lebensunterhalt weiter
als Hilfslehrer. Er cancelt nicht nur seine Karriere als Ingenieur, sondern entscheidet sich wie Picasso dafür, nicht nur die traditionellen Karriereweg, sondern auch „den bürgerlichen Lebensweg aufzugeben“ und ein anderes Leben als seine Eltern und die sozialen Gemeinschaft, denen die Familie angehört, zu führen.
Entdecken ist kein Beruf, sondern ihre Art zu leben!

Entdeckerkarrieren mit und ohne Vorbild
Bei Messner wird relativ rasch ein Mix aus Tätigkeiten, „lauter Nicht-Berufen“ wie Bergsteiger, Vortragsredner und Autor sein “Beruf“. Entdecker dieser Art können keinen bereits existierenden Beruf haben, sie schaffen neue oder Gefüge aus artverschiedenen professionellen Tätigkeiten und überschreiten dabei die die Grenzen der vorhandenen Berufe. Deshalb kann es keine Ausbildungswege für sie geben, sie müssen sie selbst schaffen, und auch keine identitätsstiftende Bezeichnung. Auch Columbus hatte in diesem Sinne keine Ausbildung und keinen Beruf, für seine Entdeckung war ein Mix aus zu unterschiedlichen Berufen gehörenden Qualifikationen nötig. Identitätsstiftend kann lediglich die Berufung zum Entdecker wirken.

Der Unterschied zwischen Messmer und Picasso ist hierbei, dass Künstler ein anerkannter Beruf ist und Picasso Modelle für gelungene Künstlerkarrieren zur Verfügung standen. So kann er in der ersten Phase seines Künstlerlebens auf die Lebensform des Künstlers als Bohemien zurückgreifen. Auch die Organisationsform als Selbstständiger, als freier Künstler, steht ihm als Möglichkeit zur Verfügung wie auch wahlweise die als in Institutionen arbeitenden Künstler wie sein Vater, die er aber von vornherein ablehnt. Picasso entwickelt recht früh eine Identität als Künstler. Er will aber nicht einer der Künstler werden, die die damals vorherrschende Form der Malerei lernen und praktizieren, sondern Eigenes und noch nicht Dagewesenes schaffen, also kein reproduzierender, sondern ein innovativer und entdeckender Künstler werden. Er kann also nicht vollständig auf die zumindest damals in Spanien noch vorherrschende Auffassung von Künstlern als Modell zurückgreifen. Das ändert sich, als er die innovativen Maler des Impressionismus und andere kennenlernt, als er nach Paris geht.

Was ihn mit Messner verbindet ist, dass er wie Messner auch sein Leben lang einen Mix aus Tätigkeitsbereichen schafft. Er eignet sich eine Kunstgattung nach der anderen an und praktiziert sie mit Erfolg. Er ist eben nicht nur Maler, sondern auch Bildhauer, Fassadengestalter, Theatermaler, Grafiker, Buchillustrator, Dichter usw.

Karrieren außerhalb von Organisationen
Beide erwerben ihre Qualifikationen für ihre verschiedenen Tätigkeitsfelder nicht in Institutionen, sie schaffen sich ihr eigenes Curriculum, ihre eigene Praxis und gestalten ihren Kompetenzerwerb selbst und auf immer wieder aufs Neue.

Beide werden nie Angestellte in Organisationen, deren Karrieren durch Karrierepfade gesteuert werden, sie entwickeln immer wieder unterschiedliche Varianten von Selbstständigkeit und deren Finanzierung. Dabei können sie keine Aufträge von anderen annehmen, sie geben sie sich selbst. Schöne Beispiele dafür, wie er als freier Künstler mit Auftragsarbeiten umgeht, er umgeht sie im wahrsten Sinne des Wortes, findet man in Picassos Fallstudie.

Karriere im traditionellen Sinne machen sie trotzdem beide, sie sind einzigartig, haben großen Erfolg und werden berühmt. Was aber weder ihr Ziel, noch für sie wirklich wichtig war, sondern oft störend und irritierend, denn die meisten Menschen können sie und ihre Motive nicht wirklich verstehen, was man z.B. in den Interviews mit Messner nachlesen kann.

Sie machen revolutionäre Entdeckungen und Erfindungen und begründen Schulen. Ihre radikal subjektive Lebensführung, die sich nicht an gesellschaftlich ausgearbeiteten Karrierewegen, Berufsbildern und Lebensformen orientiert, sondern an ihrer Berufung und ihrer Leidenschaft, ist die Vorbedingung für das, was sie selbst als Erfolg ansehen und für ihre Selbstverwirklichung. Voraussetzung für diese subjektzentrierten Karrieren ist, dass sie in einem enormen Ausmaß unabhängig, rebellisch, zu radikalen Innovationen und zu radikalen Umorientierungen fähig sind, wie wir im nächsten Abschnitt sehen können.

Die Fähigkeit zur radikalen Umorientierung in allen Lebensbereichen

Messners und Picassos Karrieren weisen viele Merkmale der typischen Entdeckerkarriere auf, unterscheiden sich von anderen aber durch ihre Fähigkeit, sich radikal umzuorientieren und damit den sich in ihnen und in der Welt vollziehenden Wandel aktiv zu verwandeln, wir nennen das transformieren.

Sie prämieren die disruptive Dimension unserer Wandeltriade®, die revolutionäre: Vernichten, Erfinden, Ersetzen. Alle Entdecker revolutionieren etwas, bei diesen beiden subjektbezogenen Karrieren ergreift das alle Lebensbereiche, weil das Entdecken ihre Lebensform ist.
Die beiden anderen Dimensionen sind Reproduzieren und Reformieren. Es gibt keine Verwandlung des Wandels, an der nicht alle drei Dimensionen einen Anteil haben und sich wechselseitig beeinflussen, die Frage ist, welche wird bevorzugt.
Mehr lesen sehen und zur Wandeltriade:


Die Triade: Den Wandel verwandeln

Im Menüpunkt Erfinden, Innovieren und Zerstören finden Sie mehr dazu
Erfinden, Innovieren und Zerstören als Programm
und auf meiner Website Wandeltriade
Wandeltriade

Meine These ist, dass das was sie reproduzieren, was also bewahrt wird, der Sinn ihrer Entdeckungspraxis und ihre damit verbundenen Werte sind. Messner: „Wir selbst sind die Sinnstifter“, bei ihm ist der Sinn seiner Entdeckungen, die Menschen- und Bergnatur und ihre Beziehung zueinander an sich selbst zu erfahren und zu verstehen, später kommt hinzu, diese Erkenntnisse anderen nahezubringen. Bei Picasso ist der Sinn seiner Kunst, etwas Alltägliches neu zu entdecken, ausdrücken, basale Themen des Menschseins zu behandeln und der Welt eine andere Perspektive darauf anzubieten. Es ist die Konstante in ihrem Leben.

Was von dem was vorhanden ist, wird reformiert, also vermindert, vermehrt und verbessert?
In unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliches. Diese Dimension wird nicht prämiert, sie unterstützt und begleitet die revolutionäre, die die radikalen Umorientierungen in dem, was andere Privatleben und Beruf nennen, zum Ziel hat. Diese radikalen Umorientierungen werden nötig, wenn es in ihrer derzeitigen Praxis nichts mehr zu entdecken gibt, der Sinn verloren geht und die Dimension des Reformierens durch Optimieren ausgereizt ist. Sich selbst in ihren Erfolgen zu reproduzieren, lehnen beide vehement ab. So treten die Phasen der Umorientierung und der dann folgenden neuen Entdeckungen und Erfindungen in den Dienst des Bewahrens.

Pablo Picasso
Im vierten Abschnitt der Fallstudie zu Picasso „Die Bedeutung der Frauen für seine Künstlerkarriere“ finden sich diese Sätze in "Seine Fähigkeit zu radikalen Umorientierungen im Leben":
„Jedes Mal, wenn er Tabula rasa macht, ist es endgültig, unwiederbringlich. Das ist seine Stärke! Das Geheimnis seiner Jugendlichkeit. Er streift wie eine Schlange die schlechte Haut ab und beginnt woanders ein neues Leben. Niemals würde er nach einer Trennung einen Blick zurückwerfen. Sein Vergessenkönnen ist noch erstaunlicher als sein Gedächtnis.“ Sagt sein Freund Sabartés nach der Trennung Picassos von seiner Frau Olga und ihrer großbürgerlichen Wohnung in Paris über ihn.(Brassaï, Gespräche mit Picasso, 78)

Seine Prämierung des Innovierens, des Zerstören des Vorhandenen und dessen Ersetzung durch das Neue, die Prämierung der disruptiven Dimension der Wandeltriade, bestimmt sein Privatleben wie seine Künstlerische Praxis. Die Triebkraft Neues zu beginnen nutzt seine unbändigen Energien, seinen Willen und seine Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst und anderen, um Vorhandenes durch Neues zu ersetzen.

  • Er cancelt seine Künstlerkarriere und die bisher bürgerliche Lebensweise, verlässt die Akademie und arbeitet daran, einen eigenen Stil zu finden.
  • Er verlässt die Frau mit der er lebt, findet oder hat bereits eine neue ihn inspirierende und ändert seinen Stil. „Wenn ich eine Frau liebe, dann sprengt das alles, besonders die Malerei.“ (Picasso, Über Kunst 54f)
  • In und aus diesen radikalen Umorientierungen entstehen neue Kunststile und Werkgattungen, neue Ausdrucksformen. Er wechselt oft die Materialien, auch die Motive und Objekte, lernt oder erfindet neue Techniken.
  • Parallel sucht und findet er neue Orte zum Leben in Spanien und Frankreich, mietet und als er genug Geld hat, kauft er auch neue Häuser.

Reinhold Messner
„Vielleicht ist die Fähigkeit, dem Alter entsprechend immer wieder neue Aufgaben zu finden, ein Teil des Glücks, das mich ‚jung‘, kreativ und lebensfroh macht.“ (RM, Mein Leben am Limit 2004, 284)
Es war auch später immer wieder von Vorteil, dass ich umsteigen konnte. Immer zum richtigen Zeitpunktzeit. In meinem Leben habe ich meist rechtzeitig gemerkt: Das bringt nichts mehr, ich brauche etwas Neues“. (ebd. 263)

Messner hat sich verglichen mit Picasso sehr viel stärker mit seiner Lebensform und Karriere auseinandergesetzt. Die Umbrüche und Verwandlungen und deren Sinn bringt er auf der Startseite seiner Website so auf den Punkt:

„Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher,
als Internet-Analphabet erzähle ich vor allem live von meinem Leben als Bergbauer, Bergsteiger, Museumsgestalter, Filmemacher. Ich habe mein siebtes Leben angefangen, nachdem ich mich sechsmal neu erfunden habe und erzähle mein Leben fort. Nach meiner Zeit als Felskletterer, Höhenbergsteiger, Grenzgänger in Polarregionen und Wüsten, Forscher, Politiker und Museumsideator bleibe ich Storyteller und Bewahrer der letzten nicht urbanisierten Räume dieser Erde. Mir geht es um das Verhältnis Menschennatur und Wildnis, um Eigenverantwortung und Erfahrungen am Rande unserer Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zuletzt.“ (www.reinholdmessner.com Startseite Zugriff 28.7.2025)

Seine Fähigkeit zu radikalen Umorientierungen zeigt sich im Folgenden:

  • Er bricht sein Ingenieursstudium ab und entscheidet sich gegen ein bürgerliches Leben, cancelt die begonnene Karriere
  • Er wechselt seine „Nicht-Berufe“ bzw. verändert deren Mix
  • Die Objekte des Entdeckens - der Typus der Wildnis - wechseln
  • Er trennt sich von Frauen und er wird auch verlassen
  • Er wechselt mehrmals seine Orte zum Leben (Hof in St Magdalena, Schloss Juval, usw. pendelt zwischen Tibet und Tirol („Halbnomade“)
  • Er wechselt im Alter von der individuellen Praxis der Alleingänge zu kultureller Praxis

Unterschiede zwischen beiden
Anders als Picasso, der bis zum Ende seines Lebens sein Künstlerdasein in der gewohnten Weise fortsetzt, ändert Messner im Alter sein Leben nochmal radikal. In seinem „siebten Leben“ prämiert er den kulturellen Sinn seiner Entdeckertätigkeit. Er vermittelt sein Wissen über die Menschennatur und setzt sich für den Schutz der letzten Wildnisse der Erde ein, also für das Bewahren und gegen Veränderung und Zerstörung durch die Menschen.

Picasso zieht sich zurück, er kauft ein abgelegenes Schloss bei Aix-en-Provence und ein Herrenhaus über den Hängen von Cannes, die wie Festungen ausgebaut sind, wird abgeschirmt von seiner Frau Jacqueline Roque vor Neugierigen, aber auch vor Besuchern und vor seiner Familie. Er verlässt diese Festungen im Vergleich zu Messner, der von seiner Burg Juval, die übrigens für Besucher geöffnet ist, in die Welt zieht, nicht mehr und widmet sich seiner Kunst.

Ungleich stärker als Picasso widmet sich Messner schon früh dem Gründen und Begründen, der dritten Dimension der Entdeckungspraxis neben dem Neu Entdecken und Erfinden, und verstärkt dies im Alter, orientiert sich als um.
Mehr dazu finden Sie im sechsten Abschnitt der Fallstudie zu Messner: Die Lebensphasen nach Klettern und Höhenbergsteigen - seine Fähigkeit zu radikalen Umorientierungen in seiner Karriere.

Ihr Verhältnis zu den Frauen:
Messner ist in seiner Entdeckungspraxis nicht so abhängig von den Frauen wie Picasso: „Ich habe mir meine Träume nicht nehmen lassen von Frau und Kind, ich wusste dass sie wirtschaftlich versorgt sind, wenn mir etwas passiert.“ (Aus dem Film „Mensch Messner! Leben am Limit“ ZDF 2023)
Picasso ist und macht sich abhängig von Frauen, die ihn zu neuen Ausdrucksformen seiner Kunst inspirieren: „Wenn ich eine Frau liebe, dann sprengt das alles, besonders die Malerei.“ (Über Kunst, 54)

Ressourcen -Talente, Physis und Psyche

Biophysische Ressourcen
Robuste Gesundheit
Überdurchschnittliches Maß an Lebensenergie (Chi, Prana, Libido)
Jugendlichkeit: Der achtzigjährige „Picasso hebt die Arme und pfeift eine Sardana. Ein junger wendiger Katalane tanzt da vor uns. Er strahlt, ist weit fort irgendwo in Katalonien.“ (Brassaï, Gespräche mit Picasso,172). Messner: „Vielleicht ist die Fähigkeit, dem Alter entsprechend immer wieder neue Aufgaben zu finden, ein Teil des Glücks, das mich ‚jung‘, kreativ und lebensfroh macht.“ (Mein Leben am Limit, 284)
Körperliche Kraft
Eine große Geschicklichkeit und Handfertigkeit bei ihrer Arbeit. Bei Messner die Körperbeherrschung, bei Picasso entsteht unter seinen Händen im Nu eine Skulptur, aus nur wenigen gekonnten Strichen ein Bild.
Die Wachsamkeit, Reaktionsschnelligkeit, Konzentrationsfähigkeit, Geistesgegenwart eines Toreros, für den Unaufmerksamkeit und Zerstreutheit den Tod bedeutet, attestiert Brassaï Picasso, was sicher auf Messner auch zutrifft. (Brassaï, 100)
Starke Vorstellungskraft und Imaginationsfähigkeit

Psychische Ressourcen
Neugier
Lust auf Entdeckungen
Freude am Entdecken
Leidenschaft

Starker Wille
Ehrgeiz
Eigensinn
Egoismus
Autonomiebedürfnis
Mut
Risikobereitschaft

Zähigkeit und Ausdauer
Leidensfähigkeit
Opferbereitschaft für das was, dem Sinn ihres Tuns ausmacht.

Rastlosigkeit
Beständiges Getriebensein
Arbeitswut

Radikalität
Revolutionärer Geist
Innovationsfähigkeit
Nahezu unfähig zu Kompromissen

Talente
Für die Karriereberatung habe ich ein Tool entwickelt, mit dem man Talente erheben kann, die individuell sind, statt mit den in Tests vorgegebenen Typologien zu arbeiten. Das Talent wird von Klienten benannt und dann der Prozess beschrieben, wie das Talent in der Praxis angewandt wird, um Aufgaben oder Probleme zu lösen.
Anders als bei den beiden vorigen Ressourcen nutze ich hier ausführlichere Beschreibungen davon wie sie sich zeigen, denn diese Talente sind für andere nicht ohne weiteres anhand der Benennung allein zu verstehen und den Menschen selbst meist nicht bewusst.
Hier eine Auflistung der Talente, über die beide - erstaunlicherweise oder vielleicht doch nicht – verfügen und die ich aus den Texten erschlossen habe. Leider finden sich bei Picasso nicht so viele treffende Formulierungen wie bei Messer - der seine Biographie außergewöhnlich intensiv durchgearbeitet hat - die seine Selbsterkenntnisse in bester Weise auf den Punkt bringen.

Das Talent Höchstleistungen erbringen zu können und dabei ans Limit zu gehen, es kennen, respektieren und nutzen

Messner besteigt im Alleingang und ohne Sauerstoff den Mount Everest 1980, drei Tage Aufstieg vom Basislager und zwei Tage Abstieg mit einer nahezu unmenschlichen Anstrengung: „Mehr als das, was ich geleistet hatte, konnte ich nicht geben. Im Delirium der folgenden Tage fiel mir der Satz von Saint-Exupéry ein: Kein Tier hätte es fertig gebracht“ (Mein Weg, 115-122, Zitat 122)
Messner: „Das heißt, immer wenn ich in einem Spiel das Limit meiner Möglichkeiten erreicht hatte - nicht das allgemeine Limit, obwohl dieses mit meinem ab und zu parallel lief –, dann habe ich etwas Neues gewagt. Immer etwas, was mich neugierig gemacht hat, was mich angeregt hat, besser zu werden.“ (Mein Leben am Limit, 297)

Picasso malt oder skulpturiert zehn oder mehr Stunden jeden Tag und in der Nacht. Er schafft in den drei Kriegsjahren in Paris 50 Bronzestatuen, er malt riesige Bilder wie Guernica (3,5 mal 7,7 Meter) oder Nächtlicher Fischfang bei Antibes (2 x 3,5 Meter). Er arbeitet wie ein Pferd mit der ihm eigenen Arbeitswut und Raserei sagt Sabartés, produziert pro Tag viele Zeichnungen, Skizzen, aber er kann seine Kräfte einschätzen (Sabartés 22-23 und Brassaï 191). „Wenn ich an die Stöße von Zeichnungen denke, kommt es mir undenkbar vor, daß ein einziges Dasein für solch ein Leistung ausreichte."(22)

Das Talent, dem eigenen Wissen und der daraus entstandenen Intuition zu vertrauen, sie verstehen und nutzen zu können

Wenn Picasso vor einer leeren Leinwand steht, vertraut und folgt er einem Einfall, beginnt sofort zu malen im Wissen über die Phasen des schöpferischen Prozesses und die Techniken und Regeln für ein gutes Bild. „Ideen sind nur Ausgangspunkte. Um zu wissen, was man zeichnen will, muß man anfangen und zeichnen.“ (Über Kunst, 51), er spricht auch von Einfällen (Brassaï, 49). „…auf jeden Fall ist das Unbewusste so stark in uns, daß es sich auf die eine oder andere Art ausdrücken muß. (Über Kunst, 109)

Messner: Am Manaslu gerät er in einen Schneesturm: „Das einzige, was mir zuletzt bei der Orientierung half, war mein Wissen. Ich wusste, daß ich auf einem großen Schneeplateau bin. Es liegt im Norden eines Grates, an dem unser Zelt Stand. Der Sturm kam von Süden. Ich habe es am Gipfel gespürt und gesehen. Also, habe ich mir gesagt, muss ich gegen den Sturm gehen. So hatte ich die Himmelsrichtung, dann ging ich nach Süden. Und ich kam an den Grat, an diesen Schneegrat, wo das Zelt stehen musste. Am Schneegrat entlang musste Ich das Zelt finden. Das ist mir auch gelungen. (Mein Leben am Limit 104f)

Das Talent die Welt genau beobachten können, die Beobachtungen speichern und nutzen zu können

Bei Messner ist das Talent, die Wege im Berg sehen zu können, sie innerlich abspeichern und sich im Handeln davon leiten lassen zu können. „Das Wegfinden haben wir als Kinder gelernt. Wir wussten einfach es geht nur da und dort. Es geht nur so.“ (Mein Leben am Limit, 32) Wie ihm das genaue Beobachten und Erahnen des Weges in einem Schneesturm das Leben rettet, schildert er bei seinem Abenteuer am Manaslu (104).

Was Picasso gesehen hat, prägt sich ihm über Jahre ein. „Er hat ein unwahrscheinliches Gedächtnis für Formen. Schon als ganz junger Mensch nahm er sie mit allen ihren Einzelheiten so gut in sich auf, dass er später nie mehr nach der Natur zu skizzieren brauchte.“ sagt Sabartés. (Brassai, 87) Er attestiert ihm "eine eingeborene Begabung die Atmosphäre seiner Umgebung zu erfassen. Er überlässt sich ihr, versinkt in ihr und erkundet sie." (Sabartés, Picasso, 30f) Eine sehr gute Beschreibung dessen, wie er diese Beobachtungen in einem kreativen Prozess weiterverarbeitet und daraus ein Kunstwerk wird findet sich bei ihm in „Über Kunst“ (1982, 40-42)

Das Talent Abenteuer zu suchen, zu wagen und zu bestehen

Abenteuer sind für Picasso die Wagnisse, die er eingeht, wenn er seine Ideen in Kunstwerke verwandeln will und es ihm gelingt.
„Ich suche nicht – ich finde. Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuem. Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer! Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewißheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen.“
(https://1000-zitate.de/12214/Ich-suche-nicht-ich-finde.html Zugriff 6.12.2024)

Messner: „Abenteuer definiere ich im alten griechischen Sinne. Ich wähle eine Reise, die schwierig ist, nicht vorgemacht wurde und tödlich enden könnte. (…) Sollte ich überleben, komme ich als andrer zurück. (Mein Weg, 170). Bei Messner ist es das sich der Wildnis Aussetzen, sich dabei zu erfahren und das Abenteuer glücklich beenden zu können, ohne Schaden zu nehmen. „Ich habe Abenteuer gemacht, nicht Berge bestiegen. Durchkommen, nicht umkommen, dort findet Abenteuer statt.“ (Mensch Messner! Leben am Limit, Film ZDF 2023) „Das wirkliche Abenteuer erlebe ich erst, wenn ich weiß wie eine Sache ausgeht. Abenteuer wagen heißt, das Unbekannte, vielleicht Unmögliche aufzusuchen.“ (Mein Leben am Limit, 46)

Das Talent Einsamkeit auszuhalten und für die Entdeckung nutzen zu können

Picasso: „Nichts kann ohne Einsamkeit entstehen. Ich habe mir eine Einsamkeit geschaffen, die niemand ahnt.“ (Über Kunst, 28). Er überwindet die Einsamkeit immer wieder, erklärt aber leider kaum, wie er es schafft. „Wenn man revolutionäre Werke schaffen will, darf man nicht verstanden werden wollen, man müsse die Einsamkeit, die daraus entsteht, aushalten lernen.“ (Über Kunst 14).

Messner: Alleingänge zu machen kann ein Gefühl von „absolutem Verlorensein“ und Angst vor der Einsamkeit am Berg erzeugen (Mein Leben am Limit, 110). „Wenn ich es schaffe, mithilfe meiner Selbstmächtigkeit gegen diese Empfindungen anzugehen, mich zu überwinden oder die Angst ins Gleichgewicht mit meinem Mut bringen, gehe ich los.“ (294) „Wenn ich handle, schrumpfen die Ängste. Erst wenn ich keine Ängste mehr habe, wenn ich sie alle abgelegt habe, bin ich frei. Dann erst bin ich vor allem beim Soloklettern im Flow.“ (290).

Das Talent scheitern zu können und dieses Scheitern verarbeiten zu können

Picasso scheitert am Portrait der Gertrude Stein, bricht den Versuch nach etwa 90 Sitzungen ab und malt es ein Jahr später aus dem Gedächtnis, es wird eines seiner besten und der Beginn einer neuen Stilepoche. Manchmal übermalt er s.E. misslungene Bilder wieder, wie z.B. die Bordellszene mit dem Matrosen, woraus die legendären Desmoiselles d’Avignon entstehen, manchmal lässt er die Werke wie im ersten Fall über längere Zeit liegen.
„Man muss das Bild zerstören, es mehrere Male überarbeiten. Jedes Mal, wenn der Künstler eine schöne Entdeckung zerstört, unterdrückt er sie nicht eigentlich, sondern er wandelt sie vielmehr um, verdichtet sie, macht sie wesentlicher. Was schließlich dabei herauskommt, ist das Ergebnis verworfene Funde.“ (Wort und Bekenntnis, 39)

Messner scheitert bei der Besteigung von Bergen: „Von den 31 Achttausender -Expeditionen habe ich 13 abgebrochen und bin lediglich 18-mal zum Gipfel gekommen.“ (Mein Weg, 365) „Im Scheitern nämlich erfahren wir unser Begrenztsein. Deshalb ist das Scheitern eine stärkere Erfahrung als der Erfolg. Auf dem Gipfel angekommen zu sein, bedeutet es geschafft zu haben, nicht mehr. Das Ziel ist damit verschwunden. Mit dem Scheitern bleibt das Ziel.“ (Leben am Limit, 135)

Das Talent radikale Umorientierungen vorzunehmen und zu bewältigen

Dieses Talent haben beide. Welche Art von Umorientierungen das sind und wie sie sie beschreiben, kann man im vorigen Abschnitt nachlesen. Mein Eindruck ist, dass sich dieses wie alle Talente schon recht früh im Leben zeigen. Nicht nur das Talent zu malen oder zu Klettern ist früh vorhanden, auch dieses zeigt sich in dem Maße, indem sie als Kinder und Jugendliche eigene Entscheidungen treffen und diese auch verwirklichen können.

Karriereanker und -kombinationen

Was Karriereanker sind und welche Rolle sie für das Verstehen von Karrieren haben, ist Gegenstand des Menüpunkt Karrieren und Karriereanker. Hier eine kurze Zusammenfassung: Karriereanker sind Triebkräfte, sie sind die energetische Dimension der Persönlichkeit neben der architektonischen und der genetisch-historiographischen Dimension.
Man hat drei Karriereanker, die miteinander in Beziehung stehen, die zusammen, gegeneinander oder nebeneinander her wirken können. Aus meiner Erfahrung als Beraterin und als Wissenschaftlerin weiß ich, dass Triebkräfte sich wechselseitig befördern, aber auch behindern können. Es gibt harmonische und spannungsreiche Kombinationen.
Der Karriereanker von Entdeckern

Zuvor ein Zitat zur Datenbasis aus der Fallstudie über Messner: „Diese Fülle an autobiografischem Material ermöglichte es, die Triebkräfte des Entdeckens genauer als in den anderen Studien untersuchen zu können. Triebkräfte sind die energetische Dimension der Persönlichkeit, sie spielen bei Entdeckern generell und bei ihm in besonderem Maße eine sehr große Rolle, denn Entdeckerkarrieren brauchen und verbrauchen ein großes Quantum an Energie, um erfolgreich zu verlaufen“.

Diese Datenlage ist bei der Untersuchung von Picassos Triebkräften oder Karriereankern - wie auch bei Marie Curie und Nicola Tesla - eine andere. Es gibt sehr viel weniger Selbstzeugnisse und autobiografische Schriften von Picasso als von Messner, die sich mit seiner Persönlichkeit und nicht nur mit Kunst beschäftigen. Auch so gute Interviews wie bei Messner, die seinen Büchern „Mein Leben am Limit“ und „Mein Weg – Bilanz eines Grenzgängers“ zugrunde liegen, gibt es bei Picasso nicht. Man kann aus den wenigen Äußerungen in seinen „Bekenntnissen“ und „Über Kunst“ und aus den, in den Werken seiner Wegbegleiter wie Sabartés, Brassaï und Françoise Gilot wiedergegebenen Passagen von Gesprächen mit ihm Datenmaterial finden, um die Triebkräfte zu erschließen, was gelungen ist.

Die Fallstudie über Messner enthält eine ausführliche Analyse der drei karrieresteuernden Triebkräfte Entdecken, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und Totale Herausforderung, der drei Karriereanker, ihrer Auslöser, wie sie sich in seiner Karriere zeigen und über ihr Zusammenwirken.
Den Lesern, die sich noch nicht mit Karriereankern befasst haben, empfehle ich, zunächst diesen Teil, also die Abschnitte 1- 4 der Fallstudie zu lesen, um sich eine Vorstellung davon machen zu können, wie diese Triebkräfte wirken und sich äußern.
Liest man danach die Fallstudie über Picasso, so wird man erstaunlich viele Ähnlichkeiten finden.

Meine These ist, dass Messner und Picasso die gleichen Karriereanker haben: Die Kombination aus Entdeckeranker, dem Anker Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und dem Anker Totale Herausforderung.

Hier der Beleg für diese These anhand von Zitaten.

Selbständigkeit und Unabhängigkeit

Edgar Schein und seine Co-Autoren beschreiben den Karriereanker in der neuesten Version der Career Anchors 2023 so:
„Autonomy: A 'Totally me' for this anchor reflects your strong need to do things on your own, free of the constraints and rules that characterize most organizations and work projects. What you really want to hold on to is a work situation or job context that gives you the feeling of freedom and independence you need. At the extreme you might wish to be self-employed, but many traditional organizational jobs such as teaching, consulting, research and development, and even sales can also allow a great deal of freedom.” (Schein, van Maanen, Schein 2023, 47)

Picasso „Auf die Freiheit muss man sehr achtgeben. In der Malerei wie auch sonst. Was du auch unternimmst, du findest dich mit Ketten beladen.“ (Über Kunst, 37)
Messner Der Karriereanker als Buchtitel: „Die Freiheit aufzubrechen, wohin ich will - Ein Bergsteigerleben“ (Messner 1998)

Keine Regeln

Picasso
„An den Fehlern erkannt man die Persönlichkeit. Wenn ich mich jetzt hinsetze, um Schnitzer zu korrigieren aufgrund von Regeln, die gar nichts mit mir zu tun haben, so ginge in der Grammatik, die ich mir nicht einverleibt habe, meine persönliche Note verloren. Lieber verfertige ich ein Ich nach meinem Gusto, als mich Regeln zu beugen, die mich nichts angehen.“ (Über Kunst, 90)

„Jedem ist es bekannt, dass eine weiße Fläche größer erscheint als eine schwarze von gleichem Ausmaß. Das ist das Elementare, Kindliche. Aber das hinderte nicht, dass alle Schwachköpfe alsbald Gesetze, Regeln entdecken wollten und mir selber zu erklären suchten, wie man malen müsse, wo doch für mich jedes Bild nicht ein Ende, nicht ein erreichtes Ziel, sondern ein glückliches Ereignis, eine Erfahrung ist.“ (Wort und Bekenntnis, 21)

„Was wir jetzt als Meisterwerke ansehen, sind die Werke, die sich am weitesten von den Regeln entfernten, wie sie die Meister der betreffenden Epoche vorschrieben.“ (Sabartés, 224)

Er prämiert die Selbstermächtigung „..doch das Recht auf freien Ausdruck ist etwas das man sich nimmt nicht etwa, das einem geschenkt wird.“ (Über Kunst, 114) “Kunst und Freiheit muß man sich wie das Feuer des Prometheus rauben, um sie gegen die bestehende Ordnung anzuwenden.“ (Über Kunst ,71)

Messner
Was heißt hier Regeln und wer stellt sie auf? Umgekehrt könnte man sagen, alle großen Erfolge sind meist gegen alle Regeln erreicht worden.“ (Leben am Limit, 107)
„Regeln gibt es nicht! “ (ebd. 108)

"Klettern hat mit Freiraum zu tun, außerhalb aller Regeln etwas zu wagen, erleben zu können, Erkenntnisse über die Menschennatur zu schöpfen.“ (Leben am Limit, 11)

Unabhängig von der Meinung anderer sein

Picasso
“Wenn ich eine Frau liebe, dann sprengt das alles, besonders meine Malerei. Alle Welt kritisiert mich, weil ich den Mut habe, mein Leben in aller Öffentlichkeit zu leben, vielleicht mit mehr Zerstörung darin als bei den meisten anderen, sicher aber auch mit mehr Sauberkeit und Wahrheit.“ (Über Kunst, 54f.)

Schaut man sich Picassos Karriere an, so ist sie durchzogen von dem Willen sich unabhängig zu machen von vorgegebenen Regeln der Kunst, der Institutionen, der sozialen Gemeinschaft oder Gesellschaft. Dies zeigt sich in seinen Revolten, seiner radikalen Gesinnung und seiner Fähigkeit radikale Umorientierung vorzunehmen, die nicht ohne Kosten für ihn waren, die er aber bereitwillig für den Erhalt seiner Autonomie auf sich genommen hat.

Messner
„Was mich stark macht, ist das Gefühl, unabhängig zu sein. (…) Die Leidenschaft für ein noch so unnützes Tun hat mich stark gemacht und gibt mir zuletzt jene Sicherheit, die Voraussetzung ist für ein selbstbestimmtes Leben.“ (Leben am Limit, 263)

„Ja ich war schon immer ein revolutionärer Mensch. Ich habe stets Probleme damit gehabt, mir von anderen Vorschriften machen zu lassen.“ (Leben am Limit, 19).

"Was war die wichtigste Entscheidung ihres Lebens? Der verhängnisvolle Abstieg am Nanga Parbat? Nein es war der Entschluss, gemäß meinen Wünschen, Vorstellungen und Träumen zu leben und nicht nach denen meiner Eltern, Lehrer oder Brüder.“ (Leben am Limit, 255)

Keine Aufträge von anderen

Picasso
Picasso mag keine Auftragsarbeiten ausführen, er will freie Kunst machen und sein eigener Auftraggeber sein. Er verändert die potentiellen Aufträge in seinem Sinn oder führt sie einfach nicht aus und kann so seine Selbstständigkeit und Unabhängigkeit wahren:
Im Grunde haßt er jeden 'Auftrag', er fühlt sich nur wohl, wenn er ganz zwanglos arbeiten kann.“ (Brassaï, 127) Das bestätigt sein Galerist Kahnweiler: “Er mag Aufträge nicht gern“ (Brassaï, 193)

Messner
Sein Leben lang gibt er wie Picasso sich selbst die Aufträge, sei es einen bestimmten Berg zu ersteigen, andere als die herkömmlichen Techniken dabei zu verwenden, neue Formate wie den Alleingang zu entwickeln, oder eine neue Schule des Bergsteigens und Kletterns „by fair means“ zu begründen und sie durch Vorträge, Bücher und Filme bekannt zu machen, oder Museen zu begründen und zu gestalten.
Auch den Auftrag, die Menschnatur zu entdecken, wie sie sich in der Wildnis zeigt, gibt er sich selbst, er allein gibt seinem Tun Sinn und ihm die größtmögliche Autonomie.
„Die Erkenntnis erst, dass nichts und niemand außer mir meinem Leben Sinn gibt, die Erkenntnis dieser Nichtheit also, begründet meine Freiheit.“ (Mein Weg 2006,132)

Der Karriereanker Totale Herausforderung

“Challenge and Risk: 'A Totally me' in this category means that work for you has a perpetually challenging. You thrive on tackling the seemingly unsolvable problems, to winning out over tough opponents, or on overcoming difficult obstacles. For you, the most important reason for pursuing a job or career is that it continues to provide challenges, that permits you to win out over the seemingly impossible or vanquishing the toughest competitors.” (Schein et al., 48)

Diese Triebkraft liefert die Energie und die Motivation, sich erneut die Anstrengungen des Entdeckens auszusetzen, dient also dem Entdeckeranker. Man kann dieses Verhalten leicht als egoistisch abwerten, aber es gehört wie die Leidenschaft und die große Energie dazu.

Immer wieder neue Ideen und Projekte

Messner
„Nach diesem Endpunkt brauche ich eine neue Aufgabe, eine neue Idee, ein neues Projekt. Jeweils dem Alter entsprechend. (…) Wie oft habe ich mir gesagt: es ist genug! Trotzdem, Wochen später, wenn die Anstrengungen, die Sorgen, die Schinderei vergessen waren, begann ich von einer neuen Herausforderung zu träumen, eine neue Klettertour zu planen. Bald war ich wieder unterwegs.“ (Mein Leben am Limit, 10)
„Das heißt, immer wenn ich in einem Spiel das Limit meiner Möglichkeiten erreicht hatte - nicht das allgemeine Limit, obwohl dieses mit meinem ab und zu parallel lief –, dann habe ich etwas Neues gewagt. Immer etwas, was mich neugierig gemacht hat, was mich angeregt hat, besser zu werden.“ (ebd., 297)

Picasso
„Ausstellungen reizen mich nicht mehr. Meine alten Arbeiten interessieren mich nicht mehr. Ich bin viel neugieriger auf die Bilder, die ich noch nicht gemalt habe.“ (Brassaï, 177)
„Die Neugier, die sprühende Ungeduld, mit der er geradewegs aufs Ziel losgeht, ist etwas Wunderbares.“ (Brassaï, 165)

Ideen realisieren

Menschen, die diese innere Triebkraft haben, sind handlungsstark, sie belassen es nicht bei Ideen und Vorstellungen, sie müssen wissen, dass sie realisierbar sind. Sie stellen sich allen Arten von Schwierigkeiten und Widerständen, die die Umsetzung mit sich bringt und nehmen sie als normal und dazugehörig hin. Tatkraft, Mut, Wagnisse und Risiken eingehen, dabei ans eigene Limit zu gehen und ein rebellisches Wesen gehören dazu.

Messner
„Wenn ich Momente erwische, in denen ich Schwierigkeiten überwinde, bin ich stark und ausgefüllt. Mein Erfolg, mein Leben war nichts anderes, als aus Ideen Tatsachen gemacht zu haben.
Interviewer: Sie sprechen von sich schon in der Vergangenheit?
Ja, ich muss ja gar nichts mehr machen! Trotzdem werde ich meine Zeit weiterhin damit ausführen, Ideen umzusetzen. Ich kann nichts anderes.“ (Mein Leben am Limit, 281)

Picasso
"Der Maler, der die Malerei in ihrer Geschichte einen Schritt vorwärts bringt, ist derjenige, der ein neues Sujet entdeckt hat.“ (Françoise Gilot, 247)

„Als wir den Kubismus 'erfanden', hatten wir keinerlei Absicht, den Kubismus zu erfinden. Wir wollten nur ausdrücken, was in uns war.“ (Wort und Bekenntnis, 42)
„Die sogenannten kubistischen Meister staunten selbst über das, was sie taten (…).“ (Über Kunst, 105-106)
„Wir sehen darin nur ein Mittel, das auszudrücken, was wir mit dem Auge und dem Geist wahrnehmen, unter Ausnützung der ganzen Möglichkeiten, die in den wesenhaften Eigenschaften von Zeichnung und Farbe liegen. Das wurde uns eine Quelle unerwarteter Freuden, eine Quelle der Entdeckungen.“ (Patrick O’Brian: Pablo Picasso, 216f)

„Einfälle sind nur Ausgangspunkte. Selten kann ich sie so fixieren, wie sie mir kommen; sobald ich mich an die Arbeit mache, kommen aus meiner Feder andere Einfälle. Um zu wissen, was man will, muß man anfangen zu zeichnen.“ (Brassaï, 49)

Die Herausforderung, nicht der Erfolg zählt

Messner
„Alles Haben ist langweilig, davon bin ich überzeugt. Jedes Haben – Wissen, Know-how, Besitz –auch den Mount Everest bestiegen zu haben, ist hinterher banal und damit langweilig. Nur bevor ich den Berg bestiegen habe, ist er eine Herausforderung. Diese zählt mehr als der Erfolg hinterher.“ (Leben am Limit, 234)

Picasso
„Wenn das Werk endlich da ist, hat der Maler es schon hinter sich gelassen.“ (Über Kunst, 78)
„Ein Künstler braucht Erfolg. Und nicht nur, um davon zu leben, sondern vor allem, um sein Werk schaffen zu können. (Brassaï, 102)

Scheitern können und neu anfangen

Das Scheitern können gehört dazu, wenn man Risiken eingeht. Es wird nicht als vermeidbares Versagen, sondern als Herausforderung erlebt, es das nächste Mal besser zu machen. Ich zähle es zu den Talenten von Entdeckern.

Messner
„Gelernt habe ich vor allem dann, wenn ich gescheitert bin. Ich bin wohl öfters gescheitert als die allermeisten anderen und nur deshalb erfolgreich geworden auf der Suche nach dem Limit. Immer wieder.“ (Mein Leben am Limit, 268)
Der Interviewer fragt ihn, ob es Herausforderungen gibt, die er nicht geschafft hat.
Messner: „Viele. Rund ein Drittel meiner Pläne konnte ich nicht realisieren. Von den 31 Achttausender-Expeditionen habe ich 13 abgebrochen und bin lediglich 18-mal zum Gipfel gekommen.“ (Mein Weg, 365)

Picasso
Picasso scheitert am Portrait der Gertrude Stein, einer bedeutenden Kunstkennerin und Mäzenin, was für ihn unangenehme Folgen haben könnte. Trotzdem bricht er den Versuch nach etwa 90 Sitzungen ab und malt es ein Jahr später aus dem Gedächtnis. Es wird eines seiner besten und der Beginn einer neuen Stilepoche. Manchmal übermalt er misslungene Bilder nach ebenfalls gescheiterten Versuchen sie zu verbessern wieder, wie z.B. die Bordellszene mit dem Matrosen, woraus die legendären „Desmoiselles d’Avignon“ entstehen, die Vorboten des Kubismus, manchmal lässt er die Werke wie im ersten Fall über längere Zeit liegen.

Langeweile

Menschen mit dieser Triebkraft langweilen sich, wenn Sie wissen, dass etwas funktionieren wird oder dass sie es bewältigt haben. Wenn sie eine Herausforderung bewältigt haben, interessieren sie sich schon wieder für die nächste.

Messner
Interviewer: „Sie haben einmal gesagt: «Spannend ist für mich nur das Neue». Langweilen Sie sich, wenn Sie auf Ihre Leistungen zurückblicken?
Ich langweile mich sogar, wenn mir fremde Leute auf die Schulter klopfen und mir zu meinem Erfolgen gratulieren.“ (Mein Leben am Limit, 263-264)

Picasso
Er wendet sich anderen Werkgattungen und Kunsthandwerken zu, wenn die alten ihn zu langweilen beginnen: “Nach der Rückkehr aus Polen ging Pablo wieder an seine Arbeit in den Töpferei Ramié, doch er war jetzt nicht mehr glücklich damit. Er hatte genug von der Keramik. Auf dem Gebiet der Lithographie hatte er außerordentliche Leistungen vollbracht, das gesamte lithographische Verfahren erneuert und technische Möglichkeiten entdeckt, auf die niemand vor ihm gekommen war. Das Resultat waren Arbeiten von einzigartigem Rang.“ (Françoise Gilot, 184)

Getriebensein akzeptieren

Die meisten Menschen mit anderen Karriereankern verstehen nicht, wieso Menschen mit diesem so getrieben sind, es nicht schrecklich finden, auch nicht ändern wollen und damit glücklich sind.

Messner
Interviewer: „Empfinden Sie dieses ständige Getriebensein, diese Unfähigkeit, gelassen zurück zu blicken, als Mangel?
Nein, als Glück. Ich könnte das Leben anders kaum aushalten und weise kann ich später noch werden.“ (Leben am Limit, 264)
Der Interviewer fragt Messner, wie es kommt, dass ihm alles weniger anstrengend vorkommt. Er antwortet darauf: An seiner Besessenheit.
„Sie ist wesentlich! Ohne die Besessenheit, ohne dieses Sich-in -eine-Idee-versteigen, Sich-in-ein Projekt-verlieben, geht es nicht. Daraus hole ich mir die Energie.“ (Mein Weg, 175)

Picasso
„Was immer auch der Ursprung des Triebes sein mag, der mich zum Schaffen zwingt, ich will ihm eine Form geben.“ (Françoise Gilot, 225)
„Die Malerei ist stärker als ich, sie heißt mich tun, was sie will.“ (Über Kunst 78)
„Ich liebe sie als meinen einzigen Lebenszweck. Alles, was ich im Zusammenhang mit der Kunst tue, bereitet mir die größte Freude.“ (Wort und Bekenntnis, 46)

Der Entdeckeranker

Dass Picasso und Messner diesen Karriereanker haben, ist ein Ergebnis meiner Forschung. In den beiden Fallstudien kann man nachlesen, wie dieser Karriereanker in ihrem Leben und Arbeiten wirksam wird. Dort wird gezeigt, was sie Unbekanntes entdeckt, Neues erfunden und was sie ge- oder begründet haben. Dies sind die drei Faktoren der Triade der Entdeckungspraxis, die die Struktur für die beiden Studien und auch für diesen Vergleich der Ausprägung des Karriereankers bei Messner und Picasso liefern. Außerdem nutze ich in allen drei Studien die Triade der Produkte des Entdeckens: Neues Wissen, Neue Praxis und neue Dinge, hier beim Vergleich insbesondere dafür, scheinbar nicht Vergleichbares wie Kunstwerke und Bergbesteigungen zu vergleichen.
Erfinden Entdecken Gründen-Die Triade der Entdeckungspraxis

Neues und Unbekanntes Entdecken
Neues Entdecken ist immer Entdecken von etwas für jemanden, für den Entdecker selbst, eine andere Person, eine soziale Gemeinschaft, die Menschheit.

Messner
Die Triebkraft, die Menschennatur im Verhältnis zur Natur, zur Wildnis zu erkennen, begleitet ihn sein Leben lang, wenn auch die Objekte und die Medien wechseln.
Anders als die hier beschriebenen Naturwissenschaftler, die das Unbekannte in der Natur entdecken und zum Teil des menschlich zugänglichen Kosmos machen wollen, will er nicht die äußere Welt, sondern seine innere Welt, seine Vorstellungswelt durch Grenzgänge erkunden und entdecken.

Es geht ihm um die Entdeckung der eigenen Natur als Individuum und als Gattungswesen in dessen Auseinandersetzung mit dem Kosmos, in diesem Fall den Bergen, Wüsten und anderen Wildnissen.
Messner: „Ich will nicht irgendwas Erforschen, sondern mich. Mein Abenteuer ist Selbstzweck. Dazu stehe ich.“ (Mein Weg, 170)

Diese Prämierung des Individuums wandelt sich in seinen späteren Lebensphasen, dann geht es ihm auch um „kulturelle Lebensäußerungen“, also um die Bedeutung seiner individuellen Erfahrungen für die Gattung und den Menschen als kulturelles Wesen. Sein Entdecken hat also einen indivuellen und zugleich kulturellen Sinn, wie auch bei Picasso.

Das Entdecken endet nicht, denn die Menschennatur ist komplex und nahezu unergründlich verglichen mit einem physikalischen oder chemischen Phänomen. Aus diesem Grunde gibt es keinen Zeitpunkt des Entdeckens, zu dem die Entdeckungspraxis abgeschlossen ist. Dies ist auch bei Picasso der Fall, der bis an sein Lebensende Kunst macht.

Picasso
Was entdeckt Picasso? Unbekanntes in der Welt, in sich, beides? Wie Reinhold Messner, der wie auch Picasso eine radikal subjektzentrierte Entdeckerpraxis betreibt, geht es um ihn selbst als Person in Beziehung zum ihn umgebenden Kosmos.
„Unsere Themen mögen anders sein, weil wir Gegenstände und Formen in die Malerei einführten, die früher nicht beachtet wurden. (Gemeint sind die kubistischen Meister Picasso und Braque, KRG). Wir blicken mit offenen Augen - und auch mit offenem Verstand - auf unsere Umwelt. Wir geben der Form und der Farbe die ihnen eigene Bedeutung, soweit wir sie sehen können; in unseren Themen wahren wir die Freude der Entdeckung, das Vergnügen am Unerwarteten; unser Thema an sich muss eine Quelle des Interesses sein. Doch wozu berichten, was wir tun, wenn jeder, der will, es sehen kann.“ (Wort und Bekenntnis, 16)

Und wie bei Messner auch geht es um ihn als soziales und kulturelles Wesen, als Teil der Gattung Mensch. Die Bewältigung menschlicher Ängste, nicht nur seiner eigenen, ist die Aufgabe der Kunst, der naiven und auch seiner.

„Malerei ist eine Form der Magie, dazu bestimmt, Mittler zwischen jener fremden feindlichen Welt und uns zu sein. Sie ist ein Weg, die Macht an uns zu reißen, indem wir unseren Schrecken wie auch unseren Sehnsüchten Gestalt geben.“ (Françoise Gilot, 221)

Neues Erfinden
Erfinden ist das Schaffen von etwas Neuem für einen Zweck, anders formuliert, um ein Problem zu lösen. Erfinden ist die Schaffung von neuen Dingen, materiellen Gegenständen, es ist Transformation und Verwandeln der Dinge des Kosmos und zweitens das Entwickeln von Programmen für die Praxis.

Picasso
„»Wir dürfen keine Scheu davor haben, etwas zu erfinden, was es auch sei«, erklärte er mir eines Tages, als wir über Skulpturen sprachen. »Alles, was in uns existiert, ist Natur. Schließlich sind wir ein Teil der Natur.«“ (Françoise Gilot, 271)
Die Produkte seines Erfindens sind Kunstwerke, neue Kunstgattungen, z.B. Skulpturen, die er aus gebrauchten Gegenständen, aus Müll herstellt. Er erfindet neue Techniken, also Programme für neue Praxis, sogar jenseits seines Fachgebiets: Sobald er von den Meistern eines Fachs genug gelernt hat, revolutioniert er deren Techniken wie die der Lithographie, der Keramik, des Linolschnitts, der Herstellung von Glasbildern und Graffiti.

Messner
Programme entwickelt und erfindet in seiner Praxis, Programme für die Praxis des Bergsteigens und Kletterns:
Klettertechniken ohne Hilfsmittel, Formate Gehen ohne Träger, Alleingang, neue Routen

Es überdauern aber keine Werke wie bei Picasso, die Spuren seiner Besteigungen kann und soll man ja nicht sehen.
„Eine Wand, die ich hinaufwill, sehe ich als eine Art Zeichentafel vor mir. Mit meiner Erfahrung und mit meinem Empfinden für Linien kann ich eine Route auf diese Wand legen. Eine gedachte Linie also, die sehr schön sein kann. Wenn ich diese gedachte Linie klettere, dann lebe ich sie, liebe sie. Sie ist in mir drin, nur für mich greifbar.(…) Niemand außer mir kann sie sehen." (Mein Weg 39-40)

Gründen und Begründen
Gründen oder Begründen und ist das Erschaffen von neuen Strukturen, neuen Ordnungen aus bekannten und vorhandenen Elementen des Kosmos.
Gegründet werden Reiche, Glaubensgemeinschaften, Wirtschafts- und Industriebetriebe,
Begründet werden Institutionen, Wissenschaftlichen Disziplinen, Fachgebiete und Professionen.

Gründen und Begründen kann man neue Strukturen erst, wenn man neues Wissen, neue Praxis oder neue Dinge entdeckt oder erfunden hat. Es steht also nicht am Beginn von Entdeckerkarrieren, sondern wird für Entdecker relevant, wenn sie diese drei Produkte ihrer Entdeckungen und Erfindungen verbreiten, bekannt machen und bewahren wollen.

Picasso
Was begründet Picasso? Zahlreiche Kunststile, er hat einen sehr großen Anteil an der Begründung der Moderne der Kunst, einer Epoche der Kunstgeschichte.

Die Gründung einer Zeitschrift wurde kein Erfolg, sie war damals zu innovativ für Spanien, das Projekt scheitert und er macht keine weiteren Versuche Publikationsorgane zu gründen.
Auch 'Schulen' im Sinne einer Institution will er nicht begründen, sich um Ausbildung, um Jünger und die Verbreitung seiner Kunst kümmern, „es zählen nur die Meister“ sagt er. Das Gründen von Schulen ist überdies schwierig, da er in seinen radikalen Umbrüchen in Kunst und Leben ständig neue Stile erfindet.
Und die Gründung eines Museums mit seinen Bildern in seiner Heimatstadt Barcelona überlässt er seinem Freund Jaime Sabartés.

Messner
Im Vergleich zu Picasso ist er ein engagierter Gründer, er will, dass sein Wissen über die Menschennatur, die Wildnisse, das Bergsteigen und die Bergvölker unter den Menschen verbreitet wird und gründet dazu:
Sechs Museen über Bergsteiger und Bergsteigen, die Menschennatur, über Wildnisse und Bergvölker, die auch seine diversen Sammlungen aufnehmen. Und zuletzt das Reinhold Messner Haus, „ein visionäres Zentrum für Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein, Kunst und Kultur (…). Hier treffen sich Menschen, Ideen und Horizonte.“ (www.reinholdmessner.com, Zugriff 18.8.25)
Er gründet eine Stiftung, die Projekte fördert. Projekte mit dem Zweck, den Bergvölkern des Himalaya durch Gründung von Institutionen für Bildung, Gesundheit, Katastrophenhilfe, Aufklärung über Umweltschutz u.a. Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. (www.reinholdmessner.com, Zugriff 18.8.25)

Wie Picasso begründet er neue Stile, aus den Richtungen oder 'Schulen' werden.
„Als Grenzgänger kann ich immer wieder Grenzen verschieben. Und in der Höhenbergsteigerei habe ich das gemacht und 15 Jahre lang bestimmt, wo es lang geht und die andern haben vieles nachgemacht, ob sie wollten oder nicht.“ (Caysa und Schmidt 2002, 19-20)

Bergsteiger folgen ihm, wie auch Künstler Picassos neue Stile übernahmen. Aber wie Picasso scheint er wenig Wert auf die Gründung einer Schule, also einer Institution, die ausbildet, oder eines Verbandes, für die er verantwortlich wäre, zu legen. Der Karriereanker Selbständigkeit und Unabhängigkeit wird dabei eine Rolle spielen, wie übrigens bei Picasso auch vermute ich.

Seine Everest Erstbesteigung 1978 mit Peter Habeler ohne Sauerstoff festigt seine Position als Begründer neuer, 'Schulen des Bergsteigens'. Einmal wegen der Erstbesteigung und zum anderen wegen der Erfindung einer neuen Praxis des Höhenbergsteigens, der Kombination des neu erfundenen Formats ohne Träger und der neu erfundenen Praxis ohne Sauerstoff in diese Höhe zu gehen. Darauf folgt bald die nächste Revolution der Bergsteigerpraxis, das neue Format des Alleingangs.

Die Ankerkombination

Das Zusammenwirken dieser drei Triebkräfte in ihren Karrieren
Der Entdeckeranker, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und Totale Herausforderung sind eine harmonische Kombination, in der die Karriereanker füreinander positive Funktionen haben oder haben können.
Wie das aussieht, habe ich in der Fallstudie zu Reinhold Messner beschrieben. Diese Beschreibung trifft auch auf Picasso zu, denn beide haben die gleichen Karriereanker.
Die drei Karriereanker stören sich nicht, sie stehen nicht in Spannung zueinander, sondern unterstützen und fördern sich gegenseitig.

Totale Herausforderung
Um entdecken zu können, muss ich mich Herausforderungen stellen können, die andere für unlösbar halten, Unmögliches angehen, ans eigene Limit gehen. Der Anker liefert Energie für Neuanfänge, und hilft dabei, Bewährtes infrage zu stellen, wenn es sich wiederholt und langweilig wird.
Diese Triebkraft liefert die Energie und die Motivation, sich erneut den Anstrengungen des Entdeckens auszusetzen, dient also dem Entdeckeranker. In Kombination mit einem ausgeprägten Willen, den beide haben und ihrer Berufung gelingt es ihnen immer wieder, weitere Projekte zu planen und erfolgreich abzuschließen. Umgekehrt liefert die Triebkraft Entdecken der Totalen Herausforderung Anlässe und Ziele, sich zu zeigen und gelebt werden zu können.

Selbstständigkeit und Unabhängigkeit
Um Innovationen erzeugen zu können, um sich von den Regeln der eigenen Profession oder des Fachs lösen zu können und eigene zu erfinden, muss man sich von Anderen unabhängig machen. Auch um seiner Praxis Sinn geben zu können, um die alleinige Verantwortung zu tragen und um wichtige Entscheidungen treffen zu können, muss man unabhängig sein und selbstständig handeln können. Das gilt auch für die Freiheit, die Herausforderungen zu wählen, denen man sich stellen will, hat man diese Autonomie, dient dieser Anker auch dem der Totalen Herausforderung.

Die Triebkraft Entdecken
Sie gibt diesen beiden anderen Triebkräften Sinn und Ziel, sie existieren nicht um ihrer selbst willen, sondern werden gebraucht um die Entdeckungspraxis zu ermöglichen.

Diese Kombination von Triebkräften liefert Energie, sie verbraucht keine und sie stört sie nicht bei ihren Entdeckungen.

Es gibt Kombinationen von Triebkräften, die in starker Spannung zueinanderstehen und deshalb viel Energie und Aufmerksamkeit verbrauchen. Hätten beide zum Beispiel die Triebkraft Sicherheit und Beständigkeit statt Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, würde dies einen Dauerkonflikt mit der Totalen Herausforderung und dem Entdecken provozieren.

Vielleicht ist hier eine Erklärung für die enormen Erfolge und Leistungen von beiden zu finden. Sie konnten leichter als andere, mit sich im Reinen und ungestört von inneren Spannungen zwischen ihren Triebkräften Grenzgänge bewältigen bzw. großartige Kunstwerke schaffen und damit einen Beitrag zur kulturellen Entwicklung der Menschheit leisten.

Doch es sind nicht nur die Karriereanker, die sie antreiben, ihnen Energie geben und sie sicher sein lassen, was sie brauchen um ihre Arbeit zu machen, die Karriereankere wirken zusammen mit den zuvor beschriebenen Aspekten ihrer Persönlichkeit:

  • Der Klarheit über ihre Berufung, über den selbst gesetzten Sinn ihrer Praxis
  • Dem Nutzen ihrer physischen und psychischen Ressourcen und ihrer Talente, insbesondere:
  • Dem Talent Höchstleistungen erbringen zu können und dabei ans Limit zu gehen, es kennen, respektieren und nutzen
  • Dem Talent Abenteuer zu suchen, zu wagen und zu bestehen
  • Dem Talent Einsamkeit auszuhalten und für die Entdeckung nutzen zu können
  • Dem Talent radikale Umorientierungen vorzunehmen und zu bewältigen.
tar_084, id140, letzte Änderung: 2025-08-19 17:10:53

© 2023 Prof. Dr. phil. habil. Kornelia Rappe-Giesecke